Der "Lahrer Hinkende Bote" und seine Vettern
Der "Lahrer Hinkende Bote" und seine Vettern
von Reinhart Siegert

Die Frage, wie die seltsame Namensgebung "Hinkender Bote" zu erklären sei, ist beim "Lahrer Hinkenden" ganz einfach zu beantworten. Johann Heinrich Geiger, der ihn auf das Jahr 1801 zum ersten Mal herausgab, hätte vielleicht die Frage umgekehrt: "Wie sollte denn ein Volkskalender sonst heißen?" Denn der "Lahrer Hinkende" hat Dutzende von Vorgängern dieses Namens. Sie alle haben eines gemeinsam: was auch immer sonst noch auf dem Titelblatt abgebildet sein mag, nie fehlt ein Mann mit unübersehbarem Stelzfuß. Meist trägt er eine alte Uniformjacke; eine Hand braucht er für den lanzenähnlichen Stab, auf den er sich stützt, in der anderen hält er oft einen Kalender, auf älteren Abbildungen auch oft einen Brief, den er aus seiner Umhängetasche nimmt. Die Uniformjacke weist ihn als ehemaligen Soldaten aus, als Kriegsinvaliden; was er in der Hand hält, deutet auf seinen neuen Lebensunterhalt hin: er ist Bote.

Und zwar nicht einfacher Briefträger: oft sind im Bildhintergrund Schlachten, Naturkatastrophen oder andere trotz ihrer Ferne wichtige Dinge zu sehen, und auch der halb amtlich wirkende Botenstab und das zum Teil größere Publikum, das sich um ihn schart, zeigt, daß mit ihm die große weite Welt und das Weltgeschehen in die dörfliche Enge der meisten Zeitgenossen kam. Als vor 200 Jahren der "Lahrer Hinkende Bote" zum ersten Mal erschien, lebten in unseren Breiten noch drei Viertel der Menschen auf dem Land: in Einzelgehöften, Dörfern und kleinen Ackerbürgerstädtchen. Sie waren in einem für uns unvorstellbaren Maß ortsgebunden; "Freizeit" und "Urlaub" wurden erst allmählich erfunden, und das Reisen war in der Zeit vor den ersten Eisenbahnen eine teure, umständliche und unbequeme Angelegenheit, die man denen überließ, die es von Berufs wegen tun mußten: Kaufleuten, Fuhrleuten, Handwerksburschen, Hausierern - und eben den Boten. Boten waren es, die dringende Nachrichten von Dorf zu Dorf brachten, die kleine Besorgungen für die Dörfler in der Stadt erledigten, die amtliche Erlasse den Dorfschultheißen zustellten; die Post reichte nur in die größeren Orte längs der Poststraßen. Darum sieht man auf vielen Kalendertitelblättern den Postreiter in friedlicher Koexistenz mit dem Hinkenden Boten - der Hinkende Bote war das letzte Glied in der Informationskette, die Nachrichten aus der ganzen Welt ins Haus des "kleinen Mannes" brachte. Der Brief in seiner Hand ist denn auch oft auffällig groß und mit einem Siegel versehen - offenbar eine Botschaft von Wichtigkeit. Boten waren oft Leute, die zur normalen Feldarbeit nicht tauglich waren; so erklärt sich der Widerspruch, daß ausgerechnet ein gehbehinderter Invalide weiter herumgekommen sein soll als die Gesunden, die ihn neugierig umstehen. Wenn auch langsam: auf manchen "Hinkenden Boten" ist eine Schnecke als Symbol dafür abgebildet. Das hindert den Boten aber nicht, gewaltige Lasten aufgebürdet zu bekommen: auf anderen "Hinkenden Boten" ist der Invalide bis weit über den Kopf hinaus bepackt wie ein Lastwagen in den Entwicklungsländern.

Der sonderbare Name und die Volkskalender haben früh zusammengefunden. Ob man ursprünglich bei dem Hinkefuß an die Geschichte vom Teufel gedacht hat, der überall herumkommt und über einen guten Einblick in das Leben und Treiben der Menschen verfügt, ist fraglich; Alain-René Lesage hat daraus einen berühmten Roman gemacht (Le Diable boiteux, 1707). Aber ebensoweit wie Lesages spanisches Vorbild (1641) reicht bereits der Hinkende Bote als Kalendertitel zurück: schon 1640 trug ein deutscher Kalender den Titel "Hinckender Post-Botte und kleiner wahrhafftiger Post-Reuter", und noch früher, nämlich 1587, begegnet uns der Titel als Titel einer Zeitung. Ganz besonders beliebt war der Titel im deutschen Südwesten, im Elsaß und in der Schweiz. Ahnvater war der Basler "Hinkende Bott", der seit 1676 gleich in zwei konkurrierenden Ausgaben (nämlich in den Verlagen Johann Conrad von Mechels und Jakob Bertsches) erschien; bei Johann Jakob Decker, einem Schwager Mechels, kam seit 1677 der Colmarer Hinkende Bote heraus; seit 1698 erschien der "Hinkende Bote" von Bern, seit 1708 der von Vivis (Vevey am Genfer See), seit 1801 der von Straßburg; der wohl neben den Basler "Hinkenden Boten" verbreitetste Schweizer Kalender, der Appenzeller, wurde 1747 ebenfalls in "Hinkender Bote" umbenannt. In Basel, Vivis/Vevey und Colmar erschienen auch französische Parallelausgaben; deutsche Auswanderer nahmen den liebgewordenen Kalendertitel in die USA mit. Insbesondere aber der Stammvater, der Basler "Hinkende Bote", galt als Musterbeispiel eines allgemein beliebten und verkauften Volkskalenders und diente in dieser Funktion noch 1806 Johann Peter Hebel bei seinem berühmten Kalendergutachten als Maßstab.

Kein Wunder also, daß Johann Heinrich Geiger, als er sich in Lahr seßhaft machte und als Buchbinder weitgehend die Literaturversorgung des Städtchens und seiner Umgebung übernahm (für eine richtige Buchhandlung war Lahr damals zu klein), im Vertrieb des Basler Hinkenden Boten einen sicheren Broterwerb sah. Und kein Wunder auch, daß er nach guten Erfahrungen damit auf die Idee kam, seiner 1794 gegründeten Druckerei mit dem Druck eines eigenen Kalenders ein sicheres Standbein zu verschaffen. Denn am Kalender druckte eine Druckerei schon vom Frühjahr des vorhergehenden Kalenderjahrs an: das ganze Kalendarium und der Unterhaltungsteil für das kommende Jahr ließen sich ja längst vorher zusammenstellen, und so konnte man bequem Auftragslücken in der Druckerei mit dem wegen der hohen Auflage langwierigen Druck einzelner Kalenderbogen füllen. Zu allerletzt gedruckt wurden die historisch-politischen Nachrichten, die damit beim Erscheinen nur 3 5 Monate alt waren; und dann fand der Kalender bereits im Spätherbst seinen Weg in die Häuser.

Wir befinden uns nicht nur in der Zeit vor dem Internet und vor Fernschreiber und Telefon, sondern auch in der Zeit vor den Nachrichtenagenturen: die damaligen besseren Zeitungen erhielten ihre Nachrichten von (meist nicht beruflichen) Korrespondenten zugeschickt; die schlechteren schrieben sie (mit Verspätung) von denjenigen Zeitungen ab, die Korrespondenten hatten ... Da war denn der Unterschied zwischen Zeitung und Kalender längst nicht so groß wie heute: der Bauer, der im Spätherbst 1789 den "Appenzeller Hinkenden Boten auf das Jahr 1790" kaufte, erfuhr dort bereits erstaunlich viel von der großen Revolution, die im Sommer in Frankreich ausgebrochen war. Sehr viel mehr hätte er auch den kleinformatigen, umfangsschwachen und noch keineswegs täglich erscheinenden Zeitungen seiner Zeit nicht entnehmen können. Nur mußte er auf die Fortsetzung recht lang warten: was im Winter geschah, konnte er dem nächsten Kalenderjahrgang erst fast ein Jahr später entnehmen, als es schon eine recht alte "Neuigkeit" war - da hatte die Zeitung dann schon deutliche Vorteile. Und so kam es, daß gerade in dem Jahrzehnt vor der Gründung des "Lahrer Hinkenden" durch die ungeheuerlichen Vorgänge in Frankreich und durch die kriegerischen Unruhen, die bald auch auf ganz Deutschland ausstrahlten, auch viele Menschen sich ans Lesen der Zeitung gewöhnten, für die bis dahin der "Hinkende Bote" das wichtigste Fenster zur großen weiten Welt gewesen war. Und entsprechend geriet der "Hinkende Bote" in den Ruf, doch ein wenig "von gestern" zu sein - fast muß es erstaunen, daß Johann Heinrich Geiger für seine Kalender-Neugründung noch den althergebrachten Namen wählte; Johann Peter Hebel hingegen dachte sich gleichzeitig lieber etwas Neues aus: "Kalender des Rheinländischen Hausfreunds".

Auch in einem anderen Punkt war der "Hinkende Bote" ein wenig in Verruf geraten. Von einem richtigen Volkskalender wurde erwartet, daß man in ihm auch das Wetter vorhergesagt lesen konnte, und zwar Tag für Tag: wann gute Tage seien zum Düngen oder zum Säen oder zum Holzmachen. Das trauten sich die Kalendermacher nicht einfach aus den Fingern zu saugen, sondern sie griffen zu einem allgemein anerkannten Ratgeber: zum "Hundertjährigen Kalender". Dort stand zu jedem Jahr, von welchem Planeten es "regiert" würde, und abhängig von diesem Planeten zu jedem Tag, wie das Wetter werden sollte. Das Ganze hatte nur einen Haken: der Hundertjährige Kalender war nicht mehr der Neueste. In ihm gab es 7 Planeten (darunter die Sonne und der Mond!), und entsprechend dem Regiment dieser sieben Planeten wiederholte sich das Wetter alle sieben Jahre. Das mochte zu den Zeiten von Abt Mauritius Knauer, dem Erfinder des "Hundertjährigen Kalenders" noch angehen: er glaubte fest an diese Voraussetzung und brauchte daher nur sieben Jahre lang (von 1652 1658) täglich das Wetter zu notieren, um für alle Zukunft das Wetter vorhersagen zu können. Daß das Wetter doch oft schon zwischen zwei benachbarten Orten Unterschiede zeigt (gerade bei so wichtigen Dingen wie Hagelschlag), wurde seltsamerweise geduldig übersehen; doch der Sternenhimmel selbst war in Bewegung geraten, und das Jahr fing längst nicht mehr im März an wie im "Hundertjährigen Kalender". Entscheidend war weniger das Hinzufügen des 1781 entdeckten Planeten Uranus (1801 ff. folgten dann noch die Planetoiden Ceres usw., 1846 der Planet Neptun) als vielmehr der Rollentausch von Sonne und Erde, den zwar Copernikus längst (in seinem Werk "De Revolutionibus", 1543) bewiesen hatte, der aber jetzt allmählich auch in die Welt der Volkskalender eindrang: er machte aus der Erde als dem Mittelpunkt der Welt einen relativ kleinen Planeten, der um die Sonne kreiste - bisher war doch die Sonne (wie der Mond) auf der großen Käseglocke gewandert, die sich über die Erdscheibe wölbte ... . Das war für die Menschen schwer vorstellbar und widersprach auch dem, wie sie die Bibel verstanden; nicht umsonst hat Johann Peter Hebel sich so große Mühe gegeben mit der "Erklärung des Weltgebäudes" und diese eingehende Erklärung an den Anfang seines "Rheinländischen Hausfreunds" und auch seines "Schatzkästleins" gestellt. Die "Hinkenden Boten", die über Generationen hinweg etwas anderes behauptet hatten, taten sich schwer mit dem Wechsel vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild - aber irgendwann mußte es sein, und damit wurden auch die herkömmlichen, auf der falschen Planetenkonstellation basierenden Wettervorhersagen und erst recht die "guten" und "bösen" Tage zum Aderlassen, zum Zahnziehen oder zum Purgieren (Nehmen von Abführmitteln) hinfällig.

Leider wissen wir nicht genau, wie Johann Heinrich Geiger sich aus der Affäre gezogen hat. Der Beginn des neuen Jahrhunderts bot einen guten Anlaß für Beginn eines neuen Kalenders; und so erschien sein Lahrer "Hinkender Bott" erstmals auf das Jahr 1801. Die ersten 3 Jahrgänge sind jedoch nicht mehr auffindbar; im allerersten Jahrgang könnte man wohl am ehesten eine Erklärung Geigers zur Wahl des fast schon ein wenig altväterlichen Namens "Hinkender Bote" und zu dem Weltbild, das hinter dem darin verwendeten Kalendarium steht, erwarten. Halten wir uns stattdessen an den frühesten erhaltenen Jahrgang, den Lahrer "Hinkenden Boten" auf das Jahr 1804 (er liegt im Lahrer Stadtarchiv). Sein voller Titel lautet umständlich:

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Die frühesten Kalender gehen in die Zeit Grimmelshausens zurück, wie dieser "Ewig-währende Kalender des abenteuerlichen Simplicissimi", der 1670 in Nürnberg verlegt und gedruckt wurde.


"Der hinkende Bott" auf dem Umschlagbild dieses Kalenders stammt aus Colmar und überbrachte schon 1684 seine Botschaften.


Als "Verbesserter und Alter Vollkommener Staats-Calender" präsentierte sich im Jahr 1718 der "Hinckende Bott" aus Bern.


Einer der frühesten 100jährigen Kalender "von 1701 bis 1801", den der Arzt Christoph Hellwigen aus Cölleda in Thüringen herausgegeben hat.